Social ohne Media?

Meine Tochter (14) brauchte heute mein iPad, um mit der App iMovie ein Video für die Schule zu drehen. Mein iPad ist schon ein paar Jahre alt, hat nur 16 GB Speicher (ohne iCloud) und schon lange habe ich nur das Nötigste drauf – zB. den GoodReader und ein paar TV- und Streaming-Dienste. iMovie jedenfalls nicht mehr… Im App-Store sagt man mir, ich können nur eine alte Version der App herunterladen – die Software ist veraltet. Okay, denke ich, kein Problem, lade ich eben iOs 14.dings auf. Geht nicht, sagt mein iPad mir, ich benutze schon 15,9 GB und für das Update brauche ich 3,21 GB freien Speicherplatz. Okay, denke ich mir, lösche ich halt ein paar Sachen… Um es kurz zu machen: Am Anfang war ich zögerlicher, am Ende nicht mehr so (da fielen meiner Löschaktion auch all die alten PDFs meines kleinen Ausflugs ins Psychologie-Fernstudium zum Opfer – dabei wollte ich die immer mal irgendwann noch lesen…) – trotzdem konnte ich die erforderlichen GB nicht freischaufeln. Mein iPad ist schon so gut wie leer, gefühlt jedenfalls…

Mein Kind muss jetzt doch erstmal mit der alten App-Version klarkommen – und bei mir wächst der Zweifel. Und viele Fragen: Was schlepppe ich eigentlich da an digitalem Müll mit mir herum? Welche von all den gespeicherten Daten brauche ich noch? Wieviele der ganzen Apps? Wieviel von den ganzen Informationen, die man tagtäglich so konsumiert?

Und was macht das mit mir? Das Gefühl, nicht mehr hinterherzukommen, kam gerade wieder hoch. Tausend Informationen, und ich schaffe es nicht mehr, eine weiterzuverfolgen und zu vertiefen. Ein wie selbstverständlicher Griff zu Handykamera, wenn irgendwas ansatzweises Schönes ins Auge fällt: Klick, Foto. Könnte sich für Insta eignen. Wollt Ihr wissen, wieviele Bilder sich in meiner Handy-Cloud befinden? Fast 13.000. Manchmal lösche ich ein paar Screenshots, oder doppelte Bilder – aber die Zeit, um mal so richtig auszumisten, fehlt mir. Wann soll ich mich erinnern an all die Momente, die ich festhalte, wenn der Tag so voll ist? Ich habe ca. 10 Ordner voller Skripte aus meinen Physio-Fortbildungen, die ich aufbewahre, weil ich denke, dass ich irgendwann mal all die Inhalte wiederholen will. In meinem Woll-Vorrat habe ich noch Wolle für ca. zehn Paar Socken, zwei bis drei Pullover und ein bis zwei Tücher. In meinem Speicher befinden sich Anleitungen für bestimmt dreißig Projekte, die ich mal stricken will. In meinem SUB (Stapel Ungelesener Bücher) habe ich ca. 50 Exemplare, die darauf warten, gelesen zu werden – aber die freie Zeit ist knapp und die Aufmerksamkeitsspanne deutlich niedriger als früher noch. Ich weiß nicht mehr, wann ich zuletzt stundenlang in einem Buch versunken war. Meistens schlafe ich beim Lesen ein, auch nachmittags. Und dann ist da noch mein politisches Ehrenamt, meine wohl wichtigste und sinnvollste Freizeitbeschäftigung – aber auch dort wachsen mir die Aufgaben und Informationen bald über den Kopf. Ich will nicht behaupten, ich sei überfordert mit meiner Aufgabe, aber so träge das politische System ist, so schnelllebig sind die Anforderungen und umfangreich die Informationen. In unserem Ortsverband versuchen wir gerade, Struktur in all das zu bringen und nutzen ein Organisations- und Speichertool (im Internet! haha), um nicht auf halben Wege zu vergessen, was wir eigentlich vor drei Jahren mal beantragt haben. So richtig Zeit, mal in Ruhe etwas vorzubereiten, gibt es eigentlich nicht.

Und dann ist da noch die ganz normale Erwerbsarbeit. Ich liebe meinen Beruf und bin sehr zufrieden mit meiner Arbeitsstelle, doch den Druck verspüre ich auch hier.

Von der Wohnung, die einigermaßen bewohnbar und sauber gehalten werden muss, habe ich bis hierher noch gar nicht gesprochen – und von den Kindern, die eine adäquate Ansprache und Fürsorge brauchen, auch nicht. Am alarmierensten ist das Gefühl, gestresst zu sein, immer dann, wenn meine Kinder irgendetwas von mir brauchen, und ich nicht weiß, wie ich das „auch noch“ erledigen soll – und genervt reagiere. Aber, können meine KInder etwas für meine 3 Stunden pro Woche auf Instagram (die Bildschirmzeit-Statistik ist jedesmal eine kleine Ohrfeige)?

Mein Lebensgefährte, er ist 15 Jahre älter als ich, klagt seit Beginn unserer Beziehung über meine Handynutzung, wie oft haben wir deswegen schon gestritten. Ich fühlte mich meistens ungerecht behandelt, nutze ich das Handy doch auch für Organisationskram, Recherchen und Sprachenlernen. Naja, aber eben auch oft, um mich mal etwas aus der Welt zurück zu ziehen, Instagram ist ein hervorragendes Werkzeug dafür, sich unter dem Deckmantel von Inspirationsquelle, politischer Meinungsbildung und Freundschaftspflege stundenlang auszuklinken. Aber, und die Frage stelle ich mir nicht erst seit dem Film „The Social Dilemma“: Wieviele meiner Follower, oder wieviele von denen, denen ich folge, würden bleiben, wenn ich ein paar Wochen nicht mehr dabei wäre? Wer wäre wirklich noch an MIR interessiert, an wem wäre ich noch interessiert, wenn der Algorithmus wegfiele, der uns immer wieder passende Bilder in den Feed spült? Was würde passieren, wenn ich keine Inspiration und keine Meinungen mehr über die Stories bekäme? Würde ich „un-inspiriert“ sein? Uninformiert?

Twitter, Instagram, Facebook und Co sind tolle Erfindungen, die viele Mesnchen zusammengebracht haben. Die politische Wirkung haben, auch im positiven Sinn (wenn wir von den Twitter-Eskapaden eines Donald Trump mal wegsehen und auch geflissentlich ignorieren, dass sich auch die „dunkle Seite“ hervorragend über diese Plattformen vernetzen kann).

Aber was macht es mit uns Mesnchen? Sind wir nicht zunehmend unfrei, gefangen in einem Netz aus Beeinflussung, Beruhigung, Belohnung? Und ist es nicht viel wichtiger, einen freien und unbelasteten Geist zu haben, als eine cleane, Marie-Kondo-artig ausgemistete Wohnung? Ist es nicht symptomatisch, dass wir versuchen, unsere Butzen neuerdings so minimalistisch und ordentlich zu gestalten – statt mal mit dem anzufangen, was unsere Aufmerksamkeit tagtäglich bindet (ehrlich, meinem Keller könnte ein bisschen „Does it spark joy?“ mal gut tun – aber der Kram da unten lenkt mich ganz sicher nicht davon ab, mich auf ein Buch zu konzentrieren – das tut das Handy in meiner Hand).

Ich spüre, dass ich einen Punkt erreicht habe, an dem ich genervt bin von jeder Bitte, jeder zusätzlichen Anforderung, jedem Anruf, jeder WhatsApp, die nicht von den liebsten Menschen kommt. Ich mag nicht die Verpflichtung haben, zu antworten, mich zu kümmern – um noch mehr. Ich will meine Ruhe haben. Das ist ein sehr häufig gedachter Gedanke in diesen Tagen. Und ja, die Corona-Pandemie hat sicher einen Teil dazu beigetragen, dass ich mich so erschöpft fühle. Sich ständig in einem Spannungsfeld zu bewegen zwischen „ich kläre auf“ (manche Patient*innen), „ich werde nicht rumjammern“, „ich akzeptiere was ist“ (meine Ansprüche an mich selbst), und „ich ertrage es bald nicht mehr, Gesichter nur noch halb zu sehen“ ist einfach anstrengend, und das Wissen, dass es den meisten von uns so geht (und manche noch viel schwerer Bürden zu tragen haben), macht es nicht unbedingt leichter.

Aber ich will so nicht sein, so unterschwellig genervt, reizbar und überfordert.

Ich glaube, es ist an der Zeit, etwas zu ändern. Das Hirn auszumisten, und nicht die Bude. Sich mal die Zeit geben, etwas durchzudenken, oder auch mal gar nicht zu denken, oder da zu sitzen und auf einen guten Einfall zu warten, ohne sich schon die nächste Inspiration von Pinterest zu holen. Oder die angesagteste Meditations-App.

Keine Ahnung, wie das konkret aussehen wird. Ich habe noch keinen Plan. Ein erster Schritt wird wohl sein, meine knapp 150 Apps auf dem Handy deutlich zu reduzieren. Und vielleicht versuche ich es mal ohne Instagram – und schreibe stattdessen lieber ein paar echte Texte. Und nächstes Wochenende habe ich am Stück vier Tage frei – ob es wohl ganz ohne digitale Zerstreuung geht?

Und unter allen Leser*innen, die es bis hierhin geschafft haben, verlose ich ein echtes Telefonat 😉

Man sagt ja, „Einsicht ist der erste Weg zur Besserung“. Wir werden sehen.

2 Kommentare

  1. Frau Tonari sagt:

    Erhrlich? Mir geht es ähnlich.
    Seit mein Blog ruht, gibt es deutlich weniger internette Kontakte. Das war anfangs gewöhnungsbedürftig, weil ich glaubte, ich wäre die Person, an der man Interesse hätte. Pah. Oft ist es wohl nur eine Art Voyeurismus. 😉 Geblieben sind wenige Kontakte und das ist auch gut so.
    Die Blogpause hat mich geerdet und nun finde ich den Weg nicht mehr zurück zum täglichen Schreiben.
    Im Job finde ich diese Online-Konferenzen mega anstrengend und bin platt, nach jeder Runde die man dreht. Es ist doch etwas anderes, einen gemeinsamen echten Raum zu teilen, als sich nur auf dem Bildschirm zu erleben.

  2. Liebe Astrid,
    all diese Online-Dinge sind nun mal Zeitfresser. Punkt. Ich habe vor 2 Jahren meinen Account auf Instagram mit aktiven Beiträgen ruhen lassen und es war gut so. Jetzt habe ich wieder gemäßigt damit angefangen und lasse mich diesmal nicht mehr davon unter Druck setzen. Das echte Leben geht einem flöten und wenn man ehrlich ist, betreibt man damit nur eine Art (virtuelle) Prokrastination. Natürlich sind Anregungen aus dem Netz und auf den Sozialmediaportalen auch schön, aber das echte Leben, die echten Menschen – das ist’s.
    Ganz liebe Grüße von deiner Followerin westwindwusel 😉

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